Sonntag. Verdammt, man stirbt doch nicht an einem Sonntag. Es ist so kalt hier, Mama. Ein spitzer Stein liegt unter meinem Rücken, er sticht in mein Fleisch, doch ich kann mich nicht abwenden. Klamm liege ich auf Asphalt. Schwarzer Asphalt. Die Farbe ist nebensächlich, denn alles ist schwarz hier. Weisst du noch, als ich dich fragte, ob man Dunkelheit spüren kann? Ja, Mama, ich spüre sie. Sie frisst sich in meinen Kopf und meine Gedanken und füllt allmählich meinen ganzen Körper aus. Fühlt sich Sterben so an? Ich will nicht sterben.
Ein kühler Wind küsst behutsam das getrocknete Blut und schleicht sich um meine verdrehte Gestalt.
Verflucht sei der Tag, als dieser verdammte Brief auf dem Tisch lag. Ich wusste, dass dies ein schlechtes Zeichen war. Vater schrieb sonst nie Briefe. Ich habe es gesehen, Mama, wie deine Hände zitterten und du in Tränen ausgebrochen bist. Ich sah dich zum ersten Mal weinen. Das machte mir Angst. Der Schmerz frisst sich in meine Seele, wie wütende Wespen, wie angreifende Wespen. Unsichtbare Wespen. Hörst du ihr aggressives Summen? Wie geht es den Zwillingen? Sie sind bestimmt schon ganz gross geworden. Weisst du, Mama, ich habe immer versucht alles zu vergessen, aber ich habe oft an euch gedacht. An dich und die Zwillinge und manchmal auch an Papa. Ich malte mir sein Gesicht aus und seine Gestalt. Manchmal bin ich mitten auf der Strasse stehengeblieben, da ich dachte Papa zu sehen, so wie er jetzt ist. Doch dann wandte ich mich immer kopfschüttelnd ab, da ich mich selber lächerlich fand. Ich glaube nicht an Gott. Beissender Weihrauch, tropfender Kerzenschein und dein wisperndes Beten in der Kirche. Heilige Sonntage. Ich hasste sie. Und wenn sie doch heilig waren? Komme ich dann in die Hölle?
Bitte, Mama sag mir, dass es dort nicht so schlimm ist. Als unser Hund gestorben ist, da hast du mir erzählt, dass er jetzt im Paradies herumtollt. Ich konnte es nicht wirklich glauben, dass man mit geschlossenen Augen rennen kann, aber ich habe nie nachgefragt. Sind meine Augen offen oder geschlossen? Alle Farben sind ausgelöscht. Und trotzdem sehe ich dich vor mir, wie du in der Küche stehst und Porridge kochst. Das mochte ich immer so gerne. Mich schüttelt es vor Kälte. Meine Zähne schlagen unkontrolliert aufeinander.
Verschwommene Blitze durchzuckten die Nacht. Sie blendeten mich und zwangen mich die Augen zu schliessen. Ich war taub im Sturm der Tränen. Ich flehte sie stumm an, doch ihre höhnischen Blicke brannten Löcher in mein Fleisch. Gierige Tatzen zerkratzten mich. Verdammte Scheisse, ich konnte doch nicht zusehen, wie wir im Dreck versinken. Wie die mageren Ratten mit den roten Augen, die im Müll wühlten. Mindestens denn Zwillingen sollte es besser gehen. Sie sollten es schön haben, Mama, und du auch. Du hast alles gegeben, doch es hat nicht gereicht. Ich hatte Pläne. Ich wollte etwas erreichen in meinem Leben und ich kämpfte dafür. Niemand kann mir vorwerfen, ich hätte keine Pläne gehabt. Ich schlug meine Zähne gierig in das Mark der Frucht. Der Saft rann mir die Finger runter und tropfte auf den kalten Steinboden. Wie Blut, dachte ich schon damals, als der Saft tropfte und der Steinboden noch kein Asphalt war.
Als ich klein war, da wollte ich immer mal in einem Polizeiauto fahren, wie die Gangster aus den Filmen. Sirenengeheul und das Klicken der Handschellen, das gefiel mir. Jene liessen sich jeweils mit grimmiger Miene abführen und ich wusste, dass die Guten gewonnen hatten. Glaube mir, Mama, mir hat es nicht gefallen, auf der Seite der Verlierer zu stehen. Ich wollte mich umbringen. Es ist so leicht, die Erinnerungen an gescheiterte Pläne auszulöschen, doch ich konnte es nicht, Mama.
… das Ende des Textes kannst Du im Bleiwiis-Buch 2014 nachlesen. Es erscheint im Frühling 2015.